Wie Bewegung Depressionen lindern kann – und warum sie kaum verschrieben wird.
Studien zeigen: Bewegung kann gegen Depressionen ähnlich gut helfen wie Medikamente oder Psychotherapie (1) – doch trotzdem wird sie kaum genutzt.
Zwar empfehlen Behandlungsleitlinien in den USA, Grossbritannien, Australien und Neuseeland Bewegung als festen Bestandteil einer Therapie (2–4). Doch in der Schweiz liegt der Fokus nach wie vor auf Psychotherapie und Medikamenten – Bewegung wird meist nur ergänzend empfohlen (5).
Doch was sagt die Forschung? Welche Bewegungsformen helfen am meisten – und wie stark ist ihr Effekt wirklich? Um diese Fragen zu beantworten, hat eine internationale Gruppe unabhängiger Forscherinnen und Forscher 218 Studien mit über 14’000 Patientinnen und Patienten ausgewertet. Die Analyse zeigt, dass bestimmte Bewegungsformen besonders wirksam sind – viele sogar in ihrer Wirkung mit Psychotherapie oder Medikamenten vergleichbar (1).
Welche Bewegungsform ist am effektivsten?
2024 wurde eine Netzwerk-Meta-Analyse (NMA) veröffentlicht, in der Forschende die Daten dieser 218 Studien zusammenfassten (1). Eine NMA ermöglicht es, mehrere Behandlungen gleichzeitig zu vergleichen, auch wenn sie nicht direkt in derselben Studie untersucht wurden.
In Studien werden oft verschiedene Bewegungsformen mit unterschiedlichen Intensitäten oder Altersgruppen untersucht. Zudem kommen unterschiedliche Kontrollgruppen zum Einsatz. In manchen Studien wurde Bewegung beispielsweise mit einer aktiven Kontrollgruppe verglichen (z. B. Dehnen, soziale Unterstützung, Placebo), in anderen mit einer medikamentösen Behandlung (z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). Eine NMA ermöglicht es, all diese Vergleiche zusammenzufassen und kann so Hinweise auf die effektivste Trainingsform liefern. Das zentrale Ergebnis dieser Analyse ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Wirksamkeit verschiedener Bewegungsformen zur Linderung depressiver Symptome. Je grösser die standardisierte Mittelwertdifferenz, desto wirksamer die Behandlung.
Die wirksamsten Bewegungsformen waren Gehen/Joggen, Yoga und Krafttraining. In den untersuchten Studien erzielten sie sogar eine ähnlich gute Wirkung wie eine kognitive Verhaltenstherapie und waren leicht wirksamer als eine medikamentöse Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Tanzen kann ebenfalls sehr wirksam sein – im Durchschnitt sogar wirksamer als Gehen/Joggen. Allerdings gibt es dazu nur wenige Studien, die teilweise methodische Schwächen aufweisen. Deshalb können die Autorinnen und Autoren der Analyse das Tanzen (noch) nicht verlässlich empfehlen.
Die Analyse zeigt auch, dass intensiveres Training im Durchschnitt mit besseren Ergebnissen assoziiert war. Dies könnte zumindest teilweise durch die Hypofrontalitätshypothese erklärt werden. Diese besagt, dass die antidepressiven und angstlösenden Effekte von Bewegung auf eine Hemmung der übermässigen neuronalen Aktivität im präfrontalen Cortex zurückzuführen sind (6). Interessanterweise könnte dieser Effekt intensitätsabhängig sein: je höher die Intensität, desto weniger Ressourcen stehen für Angstgefühle und negative Gedanken zur Verfügung (6).
Diese Ergebnisse sollten als Anregung, Richtlinie oder Inspiration betrachtet werden. In Studien werden stets Durchschnittswerte angegeben. Doch wie eine Person auf verschiedene Behandlungsoptionen reagiert, ist höchst individuell. Zudem ist die statistische Unsicherheit der Ergebnisse in Abbildung 1 gross, sodass nicht in allen Fällen eindeutig gesagt werden kann, dass eine Bewegungsform besser ist als eine andere. Besonders ermutigend ist aber, dass alle untersuchten Bewegungsformen einen klinisch bedeutsamen Nutzen erwiesen haben.
Auch spielen der Spassfaktor und die Frage, ob Bewegung zur Gewohnheit wird, eine besonders wichtige Rolle. Nur so kann man langfristig vom wohltuenden Effekt der Bewegung profitieren. Eine Studie hat beispielsweise gezeigt, dass Bewegung bei bevorzugter Intensität psychologische, physiologische und soziale Faktoren sowie die Teilnahmequote an Bewegungsprogrammen stärker verbessern kann als wenn die Intensität vorgegeben ist (7). Eine Studie deutet darauf hin, dass es sich mit der Wahl der Sportart ähnlich verhalten könnte (8). In der NMA waren Yoga und Krafttraining die Bewegungsformen mit den niedrigsten Abbruchraten. Je grösser das Gefühl der Selbstbestimmung – etwa in Bezug auf die Wahl der Sportart oder der Intensität – desto langfristiger und wirksamer kann Bewegung sein. Wie immer ist dies jedoch individuell: Wahrscheinlich gibt es auch Personen, die von strikteren Vorgaben profitieren.
Doch wie wirkt Bewegung auf die Psyche? Die Antwort liegt in ihrer Vielseitigkeit: Sie beeinflusst Körper und Geist auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
Bewegung wirkt auf mehreren Ebenen
Die antidepressive Wirkung von Bewegung beruht wahrscheinlich auf einer Kombination mehrerer Faktoren (9–15):
Soziale Interaktion – z. B. Gruppensport fördert das soziale Miteinander.
Achtsamkeit & Akzeptanz – z. B. Yoga fördert das bewusste Wahrnehmen des Körpers.
Gesteigertes Selbstwirksamkeitsempfinden – Erfolge beim Training stärken das Selbstbewusstsein.
Natürliche Umgebung – Bewegung in der Natur kann depressive Symptome mildern.
Neurobiologische Mechanismen – Erhöhte Ausschüttung von Neurotransmittern.
Akute Steigerung des positiven Affekts – z. B. durch das „Runner’s High“ nach intensivem Training.
Deswegen erscheint es sinnvoll, verschiedene Bewegungsformen zu kombinieren. Mir hilft etwa die Kombination aus Wandern und Velofahren (Zeit in der Natur und den Bergen, Gefühl der Verbundenheit), den Uetliberg hochzujoggen (ich komme so in einen Flow), Spaziergängen (mehr Klarheit in meinen Gedanken) und Krafttraining (fördert soziale Interaktion und steigert mein Selbstwertgefühl).
Obwohl die Evidenz eindeutig für mehr Bewegung in der Behandlung von Depressionen spricht, hat Bewegung – zumindest in der Schweiz – noch nicht denselben Stellenwert wie Psychotherapie oder Psychopharmaka erreicht.
Bewegung als Therapie: Warum wird sie so selten verschrieben?
Eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt, dass Bewegung trotz erwiesener Wirksamkeit bei der Behandlung von Depressionen in der Schweiz noch selten verschrieben wird. Gründe dafür sind fehlende Standardisierung in den Leitlinien, unzureichende Schulung von Ärztinnen und Ärzten zu den therapeutischen Vorteilen von Bewegung, finanzielle und strukturelle Hürden sowie individuelle Barrieren auf Patientenseite (16).
Mit diesem und einem früheren Artikel zum Thema Bewegung und Depression (siehe hier) möchte ich evidenzbasierte Leitlinien teilen – damit Bewegung als Therapieform ernster genommen wird. Mit der Bewegungsberatung (siehe hier) unterstütze ich Personen, die sich für mehr Bewegung interessieren, aber noch unsicher sind oder Fragen haben.
Ein weiterer Kritikpunkt: Es wird argumentiert, dass Bewegung zwar therapeutisch wirkt, jedoch keine Therapie ist. Das bedeutet, dass Bewegung Symptome einer Depression lindern kann, jedoch nicht die zugrundeliegenden Ursachen adressiert. Grundsätzlich teile ich diese Meinung. Bei der Psychotherapie merke ich zum Beispiel, dass tief verwurzelte Glaubenssätze entdeckt und adressiert werden können, was während des Sports nicht der Fall ist.
Hier sehe ich das synergistische Potenzial von Bewegung. Sport erhöht nämlich das zirkulierende BDNF (17). BDNF ist ein Protein, das eine wichtige Rolle für das Wachstum, die Funktion und das Überleben von Nervenzellen spielt. Es ist besonders bedeutsam für Neuroplastizität, also die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und neue Verbindungen zu bilden.
Begleitend zu einer Psychotherapie könnte Bewegung daher dazu beitragen, neue, gesündere Glaubenssätze zu verankern. Zwar fehlen spezifische Studien, die diese Hypothese direkt untersucht haben, sie kann jedoch indirekt gestützt werden. So hat beispielsweise eine Studie gezeigt, dass Bewegung kurz nach dem Lernen das Speichern von Erinnerungen verbessert (18). Auch Bewegung vor dem Lernen scheint wirksam zu sein: Sie fördert eine schnellere Einprägung von Vokabeln (19). Ob Bewegung kurz vor oder nach einer Psychotherapiesitzung zu besseren Ergebnissen führt als Bewegung oder Psychotherapie allein, muss jedoch erst durch eine Studie bestätigt werden.
Fazit
Die Evidenz ist eindeutig: Bewegung ist in der Therapie von Depressionen ähnlich wirksam wie kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka. Besonders effektiv scheinen Gehen/Joggen, Yoga, Krafttraining und Tanzen zu sein. Da verschiedene Bewegungsformen synergistisch wirken, ist eine Kombination unterschiedlicher Trainingsformen wahrscheinlich am wirksamsten.
Dabei sollten der Spassfaktor und individuelle Präferenzen berücksichtigt werden, um langfristig maximal vom positiven Effekt der Bewegung zu profitieren. Ebenso spielt Regelmässigkeit – beispielsweise Bewegung an mindestens drei Tagen pro Woche – eine entscheidende Rolle für den langfristigen Erfolg.
Die beste Bewegung ist die, die du gerne und regelmässig machst – also einfach ausprobieren, dranbleiben und die Wirkung spüren!
Referenzen