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Ist Bewegung wirklich Medizin?

  • Jan Stutz, Dr. sc. ETH
  • vor 1 Tag
  • 6 Min. Lesezeit

Führt mehr Bewegung zu besserer Gesundheit, oder bewegen sich bereits Gesunde einfach mehr?




Viele Menschen bewegen sich nicht, weil sie gesundheitlich eingeschränkt sind. Nach fehlender Zeit und zu hoher Arbeitsbelastung ist der Gesundheitszustand der dritthäufigste Grund, warum sich inaktive Menschen in der Schweiz nicht bewegen (1). Das wirft eine wichtige Frage auf: Macht Bewegung vielleicht gar nicht gesund, sondern bewegen sich einfach bereits Gesunde mehr? Die Abbildung zur Anzahl Schritte und zur Sterblichkeitsrate (Abbildung 1) veranschaulicht die Frage.


Graphik Bewegung und Sterblichkeit

Abbildung 1. Abbildung 1. Verhältnis von Bewegungsverhalten und Sterblichkeitsrate. Das relative Risiko gibt das Sterblichkeitsrisiko von aktiven im Vergleich zu inaktiven Personen an und ist hier für Personen, die im Durchschnitt 5000 Schritte pro Tag gehen, als 1 definiert. Ein Wert von 0,6 bedeutet zum Beispiel, dass das Risiko um 40 % geringer ist. Adaptiert nach Paluch et al. (2).


 

Zusammenhang bedeutet nicht Kausalität


Fakt ist: In Beobachtungsstudien weisen Menschen mit einer sehr niedrigen Anzahl Schritten ein deutlich erhöhtes Sterblichkeitsrisiko auf. Doch aus dieser Beobachtung lässt sich nicht ableiten, ob mehr Schritte pro Tag das Sterblichkeitsrisiko tatsächlich reduzieren. Genauso gut, vielleicht sogar plausibler, könnte es sein, dass kranke, bettlägerige Menschen sich schlicht nicht bewegen können. Bewegungsmangel also als Folge, und nicht als Ursache von Krankheit?


In wissenschaftlichen Studien nennen wir solche «Störfaktoren» (in diesem Beispiel Krankheit), die den Zusammenhang zwischen zwei Variablen (Anzahl Schritte und Sterblichkeitsrisiko) beeinflussen, konfundierende Faktoren oder auf Englisch Confounders. Abbildung 2 veranschaulicht dieses Konzept. Das Problem: Oft wissen wir nicht, welche Variable der Störfaktor ist und welche den Zusammenhang tatsächlich erklärt.


Diagramm Confounder

Abbildung 2. Krankheit als möglicher Confounder im Zusammenhang zwischen Bewegung und Sterblichkeitsrisiko. Führt mehr Bewegung (Schritte pro Tag) zu besserer Gesundheit (niedrigerem Sterblichkeitsrisiko) – oder ist Krankheit die Ursache für das höhere Sterblichkeitsrisiko (und gleichzeitig für weniger Bewegung)?



Im Studium wurde uns oft ein einfaches Beispiel erklärt, das die Problematik von Confoundern illustriert. Bei Kindern gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Schuhgrösse und sportlicher Leistungsfähigkeit. Das bedeutet aber nicht, dass der Kauf eines grösseren Schuhs ein Kind schneller macht. Vielmehr deutet ein grösserer Schuh auf ein höheres Alter hin. Und ältere Kinder laufen im Durchschnitt schneller als jüngere. Die Schuhgrösse ist hier also nur ein Confounder.


Doch nicht immer sind Confounder so einfach erkennbar. Wie finden wir also heraus, ob Bewegung tatsächlich zu mehr Gesundheit führt oder ob Krankheit die Ursache von Bewegungsmangel ist?



Störfaktoren kontrollieren


In Beobachtungsstudien, in denen wir «nur» Zusammenhänge zwischen Bewegungsverhalten und Gesundheitszustand untersuchen, können wir mögliche Confounder im Wesentlichen auf drei Arten kontrollieren. Die ersten zwei Strategien versuchen, offensichtliche Fälle (z. B. sehr kranke Menschen, die sich deshalb wenig bewegen) bereits vor der Datenanalyse auszuschliessen. Die dritte Strategie versucht, weniger offensichtliche Faktoren (z. B. soziale und wirtschaftliche Lage, mildere Krankheitsformen) mithilfe statistischer Verfahren zu kontrollieren (zu adjustieren):


  • Restriktion der Population: Personen mit manifesten schweren Erkrankungen werden von der Analyse ausgeschlossen, da sie sich höchstwahrscheinlich aus Gesundheitsgründen weniger bewegen – und nicht umgekehrt.

  • Exklusion früher Todesfälle: Alle Todesfälle in den ersten 1–2 Jahren nach Beobachtungsbeginn werden ausgeschlossen. Die Idee dahinter: Wenn jemand innert kurzer Zeit verstirbt, war eine schwere Krankheit wahrscheinlich schon zu Beginn vorhanden.

  • Statistische Anpassung: Es gibt viele mögliche Confounder, die wir nicht ausschliessen wollen oder können, wie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Alkoholkonsum, Rauchverhalten, Stress usw. Diese gilt es, so gut wie möglich zu kontrollieren.


Beispiel Rauchverhalten als möglicher Confounder: Weisen inaktive Menschen ein höheres Sterblichkeitsrisiko auf, weil sie sich weniger bewegen, oder liegt das eher daran, dass inaktive Menschen mehr rauchen? In Studien würden wir zuerst das Sterblichkeitsrisiko von Bewegungsmangel der ganzen Gruppe (Rauchende und Nichtrauchende) ermitteln und dann separat nur für Rauchende und Nichtrauchende. Wieso? Wenn wir die Analyse separat bei Rauchenden und Nichtrauchenden durchführen, schliessen wir den Störfaktor «Rauchen» aus, da innerhalb der beiden Gruppen alle in Bezug auf das Rauchverhalten gleich sind (entweder ja oder nein). Wenn dann noch immer ein Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Sterblichkeitsrisiko vorhanden ist, bedeutet das, dass Bewegungsmangel mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund für die erhöhte Sterblichkeitsrate ist – und nicht das Rauchen.


Wenn wir einen Confounder kontrollieren (wie in diesem Beispiel das Rauchen), beobachten wir oft, dass sich der Zusammenhang abschwächt. Das bedeutet, dass das Rauchen ebenfalls einen Einfluss auf das Bewegungsverhalten und/oder die Gesundheit hat. Da wir das Rauchen aber kontrolliert haben und der Zusammenhang – auch wenn abgeschwächt – immer noch besteht, schliessen wir, dass Bewegungsmangel tatsächlich das Sterberisiko erhöht (oder mehr Bewegung das Sterblichkeitsrisiko senkt) – unabhängig vom Rauchverhalten.


Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es zwei Problematiken gut aufzeigt. Zum einen ist die Unterteilung in Rauchende und Nichtrauchende eine starke Vereinfachung, da die Wirkung auch von der Dosis abhängt und nicht nur eine Ja-oder-Nein-Frage ist. Und zweitens haben wir in diesem Beispiel nur für die Variable Rauchen kontrolliert. In Wahrheit gibt es noch unzählige andere Faktoren, die einen Einfluss haben können, wie Alter, Geschlecht, Krankheiten, mentale Gesundheit, finanzielle und soziale Lage usw. All diese gilt es zu kontrollieren. Zusätzlich könnte es noch weitere, uns unbekannte Störfaktoren geben, die wir in der Analyse nicht berücksichtigen können. Wir sehen: Es ist kompliziert.


Beobachtungsstudien können auf kausale Zusammenhänge daher nur hindeuten, sie aber nicht bestätigen oder widerlegen. Dafür benötigen wir Interventionsstudien. Die Grundidee: Wir nehmen eine Gruppe von Teilnehmenden, lassen sie sich mehr bewegen und schauen, ob sich ihre Gesundheit verbessert. Falls sich ihre Gesundheit verbessert, könnte das aber auch daran liegen, dass sie sich besser ernähren – oder an anderen unbekannten Gründen. Deshalb benötigen wir auch eine Kontrollgruppe, die der Interventionsgruppe gleicht (hinsichtlich Alter, Geschlechtsverteilung, Lebensstil, Gesundheitszustand usw.), sich aber nicht mehr bewegt als zuvor. Nur so können wir eine verbesserte Gesundheit (mit hoher Wahrscheinlichkeit) auf die Intervention (mehr Bewegung) zurückführen. Das erreichen wir mit sogenannten randomisierten kontrollierten Studien (RCTs).



Randomisierte kontrollierte Studien


Randomisiert bedeutet, dass die Studienteilnehmenden per Zufallsprinzip der Interventionsgruppe oder der Kontrollgruppe zugeteilt werden. Ohne Randomisierung wären die Gruppen wahrscheinlich nicht mehr vergleichbar. Wenn Studienteilnehmende etwa frei wählen können, ob sie sich der Interventionsgruppe (z. B. mehr Bewegung) oder der Kontrollgruppe (keine Bewegung) anschliessen möchten, würden sich gesundheitsbewusstere Menschen, die sich bereits mehr bewegen, gesünder ernähren und weniger rauchen, wahrscheinlich für die Bewegungsgruppe entscheiden. Eine mögliche Verbesserung wäre dann nicht mehr unbedingt auf die Intervention (mehr Bewegung) zurückzuführen, sondern könnte durch andere Lebensstilfaktoren erklärt werden.


Die Randomisierung ist für die Glaubwürdigkeit einer Studie zentral, denn sie verteilt alle bekannten und unbekannten Confounder möglichst gleichmässig zwischen den beiden Gruppen und macht sie so vergleichbar. Theoretisch sind die beiden Gruppen dann hinsichtlich Alter, Geschlecht, Lebensstil, Gesundheitszustand usw. gleich – mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Interventionsgruppe mehr bewegt, die Kontrollgruppe nicht.


Ich benutze hier das Wort «theoretisch», da wir über Wahrscheinlichkeiten reden. Per Zufall könnte es zum Beispiel sein, dass mehr Rauchende der einen Gruppe als der anderen zugeteilt werden. Oder dass eine Gruppe im Durchschnitt älter ist als die andere. Dieses Risiko einer ungleichmässigen Verteilung ist besonders bei Studien mit einer kleinen Anzahl an Teilnehmenden gross. Zwar können wir die Studienteilnehmenden der beiden Gruppen hinsichtlich Variablen wie Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand vergleichen, doch sind wir auch hier wieder auf Variablen beschränkt, die uns bekannt sind. Es gibt noch zahlreiche weitere Herausforderungen bei der Studienplanung und -durchführung, die hier jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen würden.


Was ich mit diesem Artikel eigentlich sagen will: Randomisierte kontrollierte Studien liefern uns – auch wenn sie nicht perfekt sind – die beste, uns zur Verfügung stehende Beweislage dafür, dass Bewegung die mentale sowie körperliche Gesundheit verbessert. Ich möchte hier nur eine einzige Übersichtsarbeit hervorheben, die mehrere hundert randomisierte kontrollierte Studien berücksichtigt und zum Schluss kommt, dass Bewegung wie ein Medikament gegen 26 chronische Erkrankungen wirkt (3). Dazu gehören unter anderem:


  • Psychiatrische Erkrankungen: Depression, Angststörungen, Stress, Schizophrenie

  • Neurologische Erkrankungen: Demenz, Parkinson, Multiple Sklerose

  • Metabolische Erkrankungen: Adipositas, Hyperlipidämie, Metabolisches Syndrom, polyzystisches Ovarialsyndrom, Typ-2-Diabetes, Typ-1-Diabetes

  • Kardiovaskuläre Erkrankungen: Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Claudicatio intermittens

  • Pulmonale Erkrankungen: Chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Asthma, zystische Fibrose

  • Muskuloskelettale Erkrankungen: Arthrose, Osteoporose, Rückenschmerzen, rheumatoide Arthritis

  • Krebserkrankungen


Deshalb auch der Name meiner Website: Bewegung ist Medizin.



Fazit


Auch wenn einzelne Studien einen kausalen Zusammenhang nie mit absoluter Sicherheit beweisen können, liefert die Kombination von tausenden Beobachtungsstudien und Interventionsstudien eine klare Antwort: Bewegung wirkt wie Medizin – für Körper und Seele.



Referenzen

1.          Lamprecht M, Bürgi R, Stamm H. Sport Schweiz 2020 - Sportaktivität und Sportinteresse der Schweizer Bevölkerung. Magglingen: Bundes amt für Sport BASPO; 2020.

2.          Paluch AE, Bajpai S, Bassett DR, Carnethon MR, Ekelund U, Evenson KR, et al. Daily steps and all-cause mortality: a meta-analysis of 15 international cohorts. The Lancet Public Health. 2022 Mar 1;7(3):e219–28.

3.          Pedersen BK, Saltin B. Exercise as medicine – evidence for prescribing exercise as therapy in 26 different chronic diseases. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports. 2015;25(S3):1–72.


 
 

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