Mein Freund, der innere Schweinehund
- Jan Stutz, Dr. sc. ETH
- 6. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Okt.
Wieso etwas überwinden, das uns helfen will? Ein Vorschlag, wie wir mit ihm statt gegen ihn zu mehr Bewegung finden.
Ich soll mich heute noch bewegen, will aber nicht.
Eine Region im Gehirn, das dorsale anteriore cinguläre Cortex (dACC, siehe Abbildung 1), spielt eine zentrale Rolle, wenn wir entscheiden, ob wir uns bewegen oder nicht (1). Er vergleicht, laut dem Expected-Value-of-Control-(EVC)-Modell, den erwarteten Nutzen (z. B. bessere Fitness) mit den sofortigen Kosten (z. B. körperliche Anstrengung) einer Handlung (z. B. Bewegung) (1). Wenn wir die Kosten höher einschätzen als den Nutzen, unterlassen wir die Handlung, und bleiben lieber zu Hause auf dem Sofa, statt uns zu bewegen.

Abbildung 1. Der dorsale anteriore cinguläre Cortex (dACC) hilft uns, Aufwand und Nutzen von Handlungen abzuwägen. Adaptiert aus Servier Medical Art (https://smart.servier.com/) und lizenziert unter einer Creative Commons Attribution 3.0 unported-Lizenz.
Das ist weder Charakterschwäche noch Faulheit, sondern eine natürliche, gesunde Reaktion. Unser dACC (oder innerer Schweinehund) will uns helfen, Energie sinnvoll einzusetzen. Er entscheidet situationsabhängig anhand des aktuellen Zustands (z. B. Energie, Stimmung). Deshalb fällt Bewegung nach einem langen Arbeitstag schwerer, auch wenn wir wissen, dass sie guttun würde.
Anstatt ihn zu überwinden, zu überlisten oder zu besiegen, lohnt es sich vielleicht, genauer hinzuschauen. Ihm zuzuhören und mit ihm, statt gegen ihn, zu mehr Bewegung zu finden. Die Forschung von Prof. Shenhav (1) über dieses entscheidende Hirnareal liefert dafür konkrete Anhaltspunkte: Es geht darum, den erwarteten Wert einer Handlung zu erhöhen und/oder ihre Kosten zu senken.
So geht es: Kosten senken
Routine schaffen. Schon der Entscheid, sich zu bewegen oder nicht, erfordert kognitive Kontrolle und damit mentale Energie (2). Routineverhalten hingegen erfordern wenig bis keine mentale Anstrengung, da sie weitgehend automatisch ablaufen (3). Besser also, sich einmal zu entscheiden (z. B.: Ich gehe den Herbst über jeden Montag und Mittwoch nach dem Aufstehen 15 Minuten spazieren), statt jeden Tag die Entscheidung neu zu treffen.
Zeitgestaltung. Nach einem langen Arbeitstag sind wir oft mental erschöpft. In diesem Zustand bevorzugt das Gehirn Verhaltensweisen mit geringem kognitivem Aufwand, meist Routinen oder automatische Handlungen (4,5). Bewegung am Morgen kann deshalb eine effektive Strategie sein, sich regelmässiger zu bewegen (6), oder man macht Bewegung nach der Arbeit an bestimmten Tagen zur festen Gewohnheit.
Kleine Schritte. Das Aufteilen von Aufgaben in kleinere Mini-Ziele reduziert den kognitiven Planungsaufwand und erleichtert den Einstieg (7). Lieber mit 15-minütigen Spaziergängen an drei Tagen pro Woche starten, als sich vorzunehmen, jeden Tag eine Stunde zu trainieren.
So geht es: Nutzen steigern
Unmittelbarer Nutzen. Wenn der Nutzen zeitlich nah und emotional positiv ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Handlung, zum Beispiel Bewegung, umgesetzt wird (1). Besonders wirkungsvoll ist deshalb, Bewegung mit sofort positiven Erlebnissen zu verknüpfen: um Stress abzubauen, Zeit mit Freund:innen zu verbringen, in der Natur zu sein, Freude zu spüren (z. B. beim Tanzen oder in Spielsportarten) oder etwas Praktisches zu erledigen (z. B. zu Fuss einkaufen zu gehen).
Ziele visualisieren. Auch absehbare zukünftige Ereignisse und die verbundene Belohnung können den erwarteten Nutzen steigern (1). Wer sich zukünftige positive Gefühle (etwa das leichtere Körpergefühl nach einem Gewichtsverlust) vorstellt, kann diese Emotionen aus der Zukunft ausleihen und so die unmittelbare Motivation steigern.
Zusatztipps
Neues Lernen. Das Erlernen neuer Bewegungsformen kann den erwarteten Nutzen steigern, indem es Kompetenzerleben, Selbstwertgefühl oder die Freude am Lernen fördert (8). Andererseits erfordert das Üben neuer Fertigkeiten anfangs kognitive Kontrolle und mentale Energie, da die Bewegung noch nicht automatisiert ist. Empfehlenswert sind daher neue Bewegungsformen, die angemessen fordern, aber nicht überfordern.
Selbstreflexion. Eine kurze Rückschau, zum Beispiel am Ende jeder Woche, hilft, die eigene Strategie laufend zu verfeinern. Was hat gut funktioniert? Wo gibt es Verbesserungspotenzial? So entsteht Schritt für Schritt die persönliche, ideale Strategie für mehr Bewegung (9).
Fazit
Der innere Schweinehund ist unser Ratgeber: Er hilft uns, Nutzen und Kosten abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Wenn wir uns mehr bewegen wollen, sollten wir mit ihm statt gegen ihn arbeiten, indem wir die Kosten senken (Routine schaffen, kleine Schritte planen) und den Nutzen steigern (unmittelbare Belohnung, Ziele visualisieren). Zusammen mit Selbstreflexion, um die eigene Strategie laufend zu verfeinern, können wir so Schritt für Schritt einen Weg finden, mehr Bewegung nachhaltig in unser Leben zu integrieren.
Referenzen
1. Shenhav A, Botvinick MM, Cohen JD. The Expected Value of Control: An Integrative Theory of Anterior Cingulate Cortex Function. Neuron. 2013 Jul 24;79(2):217–40. https://doi.org/10.1016/j.neuron.2013.07.007
2. Botvinick M, Braver T. Motivation and cognitive control: from behavior to neural mechanism. Annu Rev Psychol. 2015 Jan 3;66:83–113. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-010814-015044
3. Shiffrin R, Schneider W. Controlled and automatic human information processing: II. Perceptual learning, automatic attending and a general theory. Psychological Review. 1977 Mar 1;84:127–90. https://doi.org/10.1037/0033-295X.84.2.127
4. Wiehler A, Branzoli F, Adanyeguh I, Mochel F, Pessiglione M. A neuro-metabolic account of why daylong cognitive work alters the control of economic decisions. Current Biology. 2022 Aug 22;32(16):3564-3575.e5. https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.07.010
5. Steward G, Chib VS. The Neurobiology of Cognitive Fatigue and Its Influence on Effort-Based Choice. bioRxiv. 2024 Jul 18;2024.07.15.603598. https://doi.org/10.1101/2024.07.15.603598
6. Schumacher LM, Thomas JG, Raynor HA, Rhodes RE, Bond DS. Consistent Morning Exercise May Be Beneficial For Individuals with Obesity. Exerc Sport Sci Rev. 2020 Oct;48(4):201–8. https://doi.org/10.1249/JES.0000000000000226
7. Correa CG, Ho MK, Callaway F, Daw ND, Griffiths TL. Humans decompose tasks by trading off utility and computational cost. PLOS Computational Biology. 2023 Jun 1;19(6):e1011087. https://doi.org/10.1371/journal.pcbi.1011087
8. Ryan RM, Williams GC, Patrick H, Deci EL. Self-determination theory and physical activity: The dynamics of motivation in development and wellness. Hellenic Journal of Psychology. 2009;6(2):107–24.
9. Carver CS, Scheier MF. On the self-regulation of behavior. New York, NY, US: Cambridge University Press; 1998. xx, 439 p. (On the self-regulation of behavior). https://doi.org/10.1017/CBO9781139174794
