Bewegung – der fruchtbarste Boden fürs Gehirn
- Jan Stutz, Dr. sc. ETH
- 5. Mai
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Mai
Schon ein Spaziergang stärkt Konzentration, Kreativität und Problemlösung. Erkenntnisse und Tipps aus der Forschung.
«Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.» – Søren Kierkegaard
Wie beginne ich diesen Artikel über Bewegung und das Gehirn? Ich habe diese Frage – im wörtlichen Sinn – beim Gehen beantwortet. Nach einem 15-minütigen Spaziergang war klar: Ich fange genau damit an. Denn Bewegung fördert nachweislich zentrale Bestandteile kreativen Denkens – etwa das konvergente Denken (die Fähigkeit, gezielt Lösungen zu finden) und das divergente Denken (die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln) (1).
Ob diese Einleitung besser ist, weil ich zuvor spazieren war, weiss ich nicht – ein Paralleluniversum zum Vergleich fehlt mir. Was ich aber sagen kann: Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, wie sich Bewegung positiv auf unsere kognitiven Fähigkeiten auswirkt – von Aufmerksamkeit über Kreativität bis hin zu Emotionsregulation und Planung. Genau darum geht es in diesem Artikel. Und um praktische Tipps, wie wir diese Effekte gezielt nutzen können.
Neue Nervenzellen durch Bewegung
Ein Wendepunkt in den Neurowissenschaften vollzog sich 1999: Damals zeigte eine Studie mit Mäusen erstmals, dass Bewegung die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus anregt – einer Hirnregion, die für Gedächtnis und Lernen zentral ist (2). Bis dahin galt die Annahme, dass sich die Anzahl unserer Nervenzellen im Laufe des Lebens nicht mehr erhöht.
Später konnte dieser Effekt auch beim Menschen nachgewiesen werden (3): In einer Studie mit 120 älteren Erwachsenen führte bereits regelmässiges, zügiges Gehen (40 Minuten pro Woche über ein Jahr) zu einem Anstieg des Hippocampus-Volumens um etwa 2 % – genug, um altersbedingte Rückgänge von ein bis zwei Jahren auszugleichen (siehe Abbildung 1). Die Vergleichsgruppe machte lediglich Dehnübungen.

Abbildung 1. Bewegung erhöht das Hippocampus-Volumen. Adaptiert aus Erickson et al. (2011) (3).
Ferner wurden positive Effekte von Bewegung auf das Hirnvolumen von älteren Menschen auch in anderen Hirnarealen nachgewiesen (4) – insbesondere in Arealen, die mit Lernen, Gedächtnis sowie teils auch mit exekutiven Funktionen (z. B. Aufmerksamkeit, Planung, mentale Flexibilität, Emotionsregulation und Selbstkontrolle) in Zusammenhang stehen (5–8).
Wie kommt es zu diesen Veränderungen? Auch wenn die Wirkmechanismen bisher nicht vollständig geklärt sind, scheint das Protein BDNF (Brain Derived Neurotrophic Factor) eine zentrale Rolle zu spielen (9). BDNF ist ein Protein, das im Gehirn das Wachstum, die Vernetzung und den Schutz von Nervenzellen fördert. Bewegung scheint dabei die zuverlässigste und am besten belegte Methode zur Steigerung von BDNF zu sein (siehe Abbildung 2) (8,10).

Abbildung 2. Bewegung fördert die Produktion von BDNF, was die Nervenzellen schützt und deren Wachstum und Erneuerung fördert. Adaptiert aus Liu & Nusslock (2018) (11).
Der Neurowissenschaftler Shane O’Mara bringt es auf den Punkt: „Bewegung wirkt wie ein molekularer Dünger im Gehirn. BDNF unterstützt die Umstrukturierung und das Wachstum von Synapsen nach dem Lernen und erhöht die Widerstandskraft gegenüber Alterungsprozessen und Hirnschäden“ (12).
Doch was bedeuten diese strukturellen Veränderungen für unsere Denkfähigkeit im Alltag? Können sie Aufmerksamkeit, Kreativität oder Gedächtnis wirklich verbessern? Und wie lange und intensiv muss man sich dafür bewegen?
Aufmerksamkeit, Kreativität, Gedächtnis
Wie stark schon eine einzelne Bewegungseinheit das Denken beeinflussen kann, zeigte eine vielbeachtete US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2009 (13). 20 Kinder führten kognitive Tests zur Aufmerksamkeitskontrolle und schulischen Leistung durch – einmal nach 20 Minuten Sitzen, einmal nach 20 Minuten Gehen auf dem Laufband. Das Ergebnis: Nach der Bewegung schnitten sie besser ab. Auch die Hirnaktivität zeigte, dass mehr Ressourcen auf die Aufgabe gerichtet wurden (siehe Abbildung 3) (13).

Abbildung 3. Hirnaktivität während kognitiver Tests nach 20 Minuten Sitzen bzw. Gehen. Adaptiert aus Hillmann et al., (2009) (13).
Diese Effekte lassen sich nicht nur bei Kindern beobachten, sondern auch bei Erwachsenen (14). Bestätigt wird dies durch eine grosse Metaanalyse mit 79 Studien und über 2000 Teilnehmenden – von Kindern bis Senior*innen (15). Besonders verbessert wurden sogenannte exekutive Funktionen wie Aufmerksamkeit, Planung und Selbstkontrolle. Auch der Abruf von Fakten- und Sprachwissen (kristalline Intelligenz) profitierte. Wer sich regelmässig bewegt, verankert diese Effekte langfristig – aktive Menschen schneiden in entsprechenden Tests im Schnitt besser ab als inaktive (8,16).
Beim Gedächtnis scheint die Wirkung differenzierter zu sein: Eine einzelne Bewegungseinheit verbessert eher das Langzeitgedächtnis, während regelmässige Bewegung vor allem das Kurzzeitgedächtnis stärkt (17). Beide Formen wirken also ergänzend und können einander verstärken. Die Autor*innen der Metaanalyse betonen allerdings, dass die Effekte im Durchschnitt eher moderat ausfallen – mit einer Ausnahme: Kinder mit ADHS profitieren besonders stark (16). Entscheidend ist ausserdem, wie lange und intensiv man sich bewegt. Mehr dazu im Abschnitt „Fünf Tipps für mehr Hirnpower“.
Bewegung statt Kaffee?
Wie stark Bewegung unser Denken beeinflusst, zeigt eine spannende Vergleichsstudie mit Kaffee (18): 29 Personen, die sonst kaum Koffein konsumieren, gingen entweder 20 Minuten zügig spazieren oder tranken die Menge Koffein eines Espressos. Anschliessend wurde ihr Arbeitsgedächtnis getestet – also die Fähigkeit, Informationen kurzfristig zu speichern und zu verarbeiten. Das Ergebnis: Beide Methoden verbesserten die Leistung gleichermassen (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4. Verbesserung im Arbeitsgedächtnis nach 20 Minuten Gehen und nach Koffeinkonsum in Teilnehmende, die sonst kaum Koffein konsumieren. Adaptiert aus Morava et al. (2019) (18).
In einer zweiten Versuchsgruppe mit regelmässigen Kaffeetrinker*innen schnitt Bewegung sogar besser ab als Kaffee – vermutlich wegen Gewöhnungseffekten (18). Ein kleiner Vorbehalt bleibt: Während man weiss, dass Koffein über mehrere Stunden wirkt (19), ist die Dauer des Effekts bei Bewegung bisher weniger gut untersucht (20).
Klar ist aber: Egal ob einmalig oder regelmässig – Bewegung verbessert vielfältige kognitive Funktionen: Aufmerksamkeit, Planung, Emotionsregulation, Selbstkontrolle, Kreativität, Lernen und Gedächtnis. Doch wie lange muss man sich bewegen, wie intensiv – und welche Form eignet sich am besten?
Fünf Tipps für mehr Hirnpower
Wer seine kognitiven Fähigkeiten gezielt verbessern möchte, kann sofort loslegen – mit Bewegung. Die folgende Auswahl basiert auf der aktuellen Studienlage und lässt sich einfach in den Alltag integrieren:
Jede Bewegung zählt. Eine grosse Übersichtsarbeit mit über 2700 Studien zeigt: Ob Spazieren, Velofahren oder Yoga – verschiedene Bewegungsformen, Intensitäten und Dauern können das Denken positiv beeinflussen (16).
Beweg dich, wie es dir gefällt. Studien mit Mäusen zeigen: Freiwillige Bewegung wirkt stärker auf die Bildung neuer Nervenzellen als erzwungene Aktivität (11). Auch bei uns gilt: Wer gerne trainiert, bleibt eher dran – und profitiert langfristig.
Lieber locker als verkrampft. Die besten Effekte auf Aufmerksamkeit und Planung zeigen sich meist bei leichter bis moderater Intensität – also etwa beim zügigen Gehen oder Radfahren (16). Intensivere Einheiten können ebenfalls nützlich sein, vor allem bei gezieltem Einsatz (15).
Neues fordert dein Gehirn. Neue Bewegungsformen oder Sportarten aktivieren das Gehirn besonders stark – sie trainieren nicht nur den Körper, sondern auch Koordination, Planung und Anpassung (16).
Abwechslung macht den Unterschied. Ausdauer, Kraft, Koordination – jede Trainingsform spricht andere Hirnregionen an. Koordinativ anspruchsvolle Sportarten wie Tennis oder Basketball aktivieren z. B. den Frontallappen, Thalamus und Hippocampus stärker als monotone Bewegungen wie Joggen (21). Auch Yoga oder Tai-Chi wirken positiv – durch Achtsamkeit und das Merken komplexer Bewegungsabfolgen (16).
Was ausser Bewegung helfen kann – und was nicht
Auch kognitives Training – etwa Apps oder Computerübungen für das Arbeitsgedächtnis – zeigt in Studien gewisse Effekte (22). Die Verbesserungen übertragen sich aber selten auf nicht trainierte Bereiche oder den Alltag (23). Für nachhaltige Effekte sind deshalb ganzheitliche Ansätze wie körperliche Bewegung, ausreichender Schlaf und soziale Interaktion besonders zu empfehlen.
Häufig werden auch Nahrungsergänzungsmittel beworben, um Gedächtnis oder Konzentration zu steigern. Meine Masterarbeit an der ETH zeigte jedoch: Die Supplementierung mit Vitaminen bringt bei gesunden Menschen kaum messbare Vorteile (8). Eine neuere Übersichtsarbeit kommt zwar zu einem gegenteiligen Ergebnis – tägliche Einnahme von Vitaminen und Mineralstoffen soll bei älteren Menschen das Gedächtnis verbessern und altersbedingte Einbussen um zwei Jahre ausgleichen (24). Doch ein Blick in die Studienfinanzierung zeigt: Die Forschenden wurden von Firmen wie Nestlé-Purina, Mars Edge oder Pfizer unterstützt – was die Aussagekraft deutlich relativiert. Wie bereits in einem früheren Artikel thematisiert: Industriegesponserte Studien bergen ein hohes Risiko für Verzerrungen (siehe hier).
Was andere Mittel, wie z. B. Fischölkapseln betrifft, kann ich keine fundierte Aussage machen. Nach aktuellem Kenntnisstand gilt: Bei einer ausgewogenen, wenig verarbeiteten Ernährung braucht es keine Supplemente – ausser bei nachgewiesenem Mangel (25).
Fazit
Bewegung ist ein einfaches, wirksames Mittel, um das Gehirn zu stärken. Ein 15–20-minütiger Spaziergang reicht aus, um neue Ideen zu fördern oder fokussierter zu arbeiten. Wer regelmässig abwechslungsreiche Bewegungen in den Alltag einbaut – Ausdauer, Kraft und Koordination –, fördert seine kognitiven Fähigkeiten bis ins hohe Alter.
Referenzen