top of page

Dehnen – viel versprochen, wenig bewiesen?

  • Jan Stutz, Dr. sc. ETH
  • 31. Juli
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Aug.

Dehnen soll Muskelkater und Verletzungen verhindern und Gesundheit wie Leistung fördern. Doch was sagt die Wissenschaft?


Frau die dehnt

Auf der Website von Harvard Health liest man, dass Dehnen ein unterschätzter, aber wichtiger Bestandteil des Alltags sei (1). Es soll nicht nur die Beweglichkeit verbessern, sondern auch den Blutkreislauf, die Haltung und die sportliche Leistungsfähigkeit fördern. Zudem soll regelmässiges Dehnen Muskelkater und Verletzungen vorbeugen sowie Stress abbauen.


Der Artikel nennt jedoch keine Studien. Da ich gelegentlich dehne (wenn auch seltener, als ich es mir vornehme), möchte ich wissen, was wirklich hinter diesen Aussagen steckt. Welche Erkenntnisse liefert die Forschung?



Dehnen macht flexibel


Statisches Dehnen an zwei oder mehr Tagen pro Woche über mehrere Wochen hinweg verbessert nachweislich die Beweglichkeit (2, 3).


Infobox: Statisches und dynamisches Dehnen

Beim statischen Dehnen wird eine Position über eine längere Zeit (meist 15–60 Sekunden) gehalten. Beim dynamischen Dehnen werden fliessende Bewegungen wie Schwingen, Kreisen oder Ausfallschritte ausgeführt.



Flexibilität beschreibt die Fähigkeit der Muskeln und Gelenke, sich über ihren vollen Bewegungsbereich zu bewegen – ohne Einschränkungen oder Schmerzen. Dabei verlängert sich der Muskel nicht, wie oft angenommen. Die verbesserte Beweglichkeit beruht vielmehr auf veränderten mechanischen Eigenschaften der Muskel-Sehnen-Einheit, wie z. B. einer verminderten Steifigkeit (4) oder einer erhöhten Dehntoleranz (5). Letztere bedeutet, dass der Körper den Dehnschmerz besser toleriert – und so einen grösseren Bewegungsumfang zulässt.


Aber: Dehnen ist nicht der einzige Weg zu mehr Flexibilität. Krafttraining mit Bewegungen über den vollen Bewegungsumfang ist ebenfalls wirksam – wie eine Studie mit Frauen zeigt (siehe Abbildung 1).


Beweglichkeit vor und nach verschiedene Trainingsformen

Abbildung 1. Beweglichkeit der Oberschenkelrückseite vor und nach verschiedenen Trainingsformen (2).


 

Diese Ergebnisse bestätigt auch eine systematische Übersichtsarbeit: Krafttraining und Beweglichkeitstraining sind ähnlich wirksam, um die Flexibilität zu verbessern (7). Dehnen ist also nicht die einzige Strategie.


Doch wofür bringt mehr Flexibilität eigentlich einen Vorteil? Verbessert sie die Leistung, senkt sie das Verletzungsrisiko oder fördert sie die Erholung?


 

Unterschiedliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit


Statisches Dehnen direkt vor dem Sport kann die Leistung verschlechtern – etwa bei Sprints, Kraftleistungen oder Sprüngen. In diesen Fällen muss der Muskel schnell Kraft produzieren, was durch eine gedehnte, weniger elastische Muskel-Sehnen-Einheit erschwert wird. In Sportarten mit hohen Beweglichkeitsanforderungen wie Turnen, Kunstspringen oder Tanzen kann Dehnen hingegen die Leistung steigern (8).


Bei Ausdauerbelastungen wie Laufen scheint statisches Dehnen vor dem Sport wenig sinnvoll zu sein. Kurzes dynamisches Dehnen – weniger als fünf Minuten und eingebettet in ein Warm-up – kann hingegen die Leistung verbessern. Besonders profitieren Personen mit eingeschränkter Beweglichkeit, da sich dadurch ihre Laufökonomie, also der Energieverbrauch bei gegebener Geschwindigkeit, verbessern kann (9).

 

Infobox: Tipps für ein effektives Warm-up

Ein effektives Warm-up bereitet den Körper auf die bevorstehende Belastung vor und kann das Verletzungsrisiko reduzieren (12). Als Aufwärmübungen eignen sich kurze Ausdaueraktivitäten (z. B. zügiges Gehen, Joggen, Seilspringen, Hampelmänner), gefolgt von dynamischem Dehnen (z. B. Kreise für Schultern, Hüften, Handgelenke, Beinschwünge, Rumpfrotationen) und sportspezifischen Aktivitäten (z. B. leichte Gewichte stemmen vor dem Krafttraining oder leichtes Radfahren oder Laufen vor der Ausdauerleistung). Die Dauer beträgt in der Regel 10 bis 15 Minuten – bei Sprintwettkämpfen auch deutlich länger.



Einzelne Studien zeigen, dass regelmässiges statisches Dehnen die Muskelkraft verbessern kann (10). In vielen anderen Studien ist dieser Effekt jedoch nicht zu beobachten (2, 4).

Aktuell spricht die Datenlage also eher gegen Dehnen als Strategie zur Leistungssteigerung – ausser bei Defiziten oder bei Sportarten, die hohe Flexibilität voraussetzen.


 

Schnellere Erholung und weniger Verletzungen?


Statisches Dehnen hat keinen überzeugenden Effekt auf die Regeneration (13). Dr. Gremion vom Universitätsspital Lausanne vermutet, dass statisches Dehnen sogar die Blutzirkulation hemmen könnte – was die Erholung erschwert (8).


Auch bei Muskelkater zeigen mehrere Studien: Weder Dehnen vor noch nach dem Sport ist wirksam, um ihn zu verhindern (14, 15). Generell scheint Dehnen auch bei der Vorbeugung von Verletzungen wenig effektiv zu sein (16). Allerdings lohnt sich ein genauer Blick:


In Sportarten, bei denen eine elastische Muskel-Sehnen-Einheit von Vorteil ist – etwa bei repetitiven Sprüngen oder im Fussball – kann Dehnen hilfreich sein (16). Anders sieht es in zyklischen Ausdauersportarten wie Laufen, Radfahren oder Schwimmen aus. Dort ist es wichtiger, dass die Kraft direkt und effizient vom Muskel über die Sehne auf die Bewegung übertragen wird (16).


Bei eingeschränkter Beweglichkeit hingegen kann Dehnen durchaus sinnvoll sein: Patient:innen mit patellofemoralen Knieschmerzen haben oft verkürzte Oberschenkelrückseiten (17). In solchen Fällen kann gezieltes Dehnen die Schmerzen lindern (18).


Wichtig: Sowohl zu wenig als auch zu viel Beweglichkeit kann das Verletzungsrisiko erhöhen. In einer Studie über ein dreimonatiges Militärtraining hatten sowohl die am wenigsten als auch die am meisten flexiblen Teilnehmer die höchste Verletzungsrate – etwa durch Verstauchungen oder Muskelfaserrisse (19). Ein mittleres Mass an Beweglichkeit scheint daher am besten zur Vorbeugung geeignet zu sein.


 

Dehnen und allgemeine Gesundheit


Die Beweglichkeit steht nicht in Zusammenhang mit der allgemeinen Sterblichkeit (20). Andere Faktoren wie der BMI (21), die Ausdauerfähigkeit (22), Muskelkraft (23) und das Gleichgewicht (24) sind deutlich relevanter für die Gesundheit.


Deshalb plädiert Dr. Nuzzo dafür, Beweglichkeitstraining nicht mehr als zentrales Ziel in allgemeinen Bewegungsempfehlungen zu führen (25). In der Schweiz wurde das bereits umgesetzt: Für gesunde Erwachsene wird Dehnen nur nals ergänzende Massnahme empfohlen (26).


Eine mögliche Ausnahme: Die Rumpfbeweglichkeit scheint mit der Steifigkeit der Blutgefässe im Alter zusammenzuhängen (27). Dehnübungen könnten daher helfen, die Funktion der Arterien zu erhalten oder zu verbessern (28).


 

Was für das Dehnen spricht


Ist Dehnen also sinnvoll oder nicht? Das hängt vom Einzelfall ab. Verkürzte Muskeln (genauer: Muskel-Sehnen-Einheit) – z. B. durch langes Sitzen – können durch Dehnen wieder gelöst werden. Häufig sind bei Büroarbeitenden etwa die Hüftbeuger verkürzt (29). Auch bei Knieschmerzen kann Dehnen hilfreich sein (17, 18).


Zudem kann Dehnen entspannend wirken (30) – und das kann allein schon ein Grund sein, es regelmässig in den Alltag zu integrieren. Mir persönlich helfen zehn Minuten Dehnen, um zur Ruhe zu kommen und den Körper zu spüren. Und selbst wenn es nur ein Placeboeffekt ist: Ein gutes Gefühl kann durchaus erholsam wirken (31).

 


Fazit


Seit über 100 Jahren wird zur Wirkung von Dehnen geforscht. Der gesundheitliche Nutzen ist jedoch begrenzt – vor allem zur Regeneration und Verletzungsprophylaxe. Bei mangelnder Beweglichkeit oder zur Entspannung kann Dehnen aber sinnvoll sein.



Referenzen

1.          Harvard Health [Internet]. 2023 [cited 2025 Jul 29]. The ideal stretching routine. Available from: https://www.health.harvard.edu/staying-healthy/the-ideal-stretching-routine

2.          Simão R, Lemos A, Salles B, Leite T, Oliveira É, Rhea M, et al. The influence of strength, flexibility, and simultaneous training on flexibility and strength gains. J Strength Cond Res. 2011 May;25(5):1333–8.

3.          Harvey L, Herbert R, Crosbie J. Does stretching induce lasting increases in joint ROM? A systematic review. Physiother Res Int. 2002;7(1):1–13.

4.          Guissard N, Duchateau J. Effect of static stretch training on neural and mechanical properties of the human plantar-flexor muscles. Muscle Nerve. 2004 Feb;29(2):248–55.

5.          Shrier I. Stretching before exercise does not reduce the risk of local muscle injury: a critical review of the clinical and basic science literature. Clin J Sport Med. 1999 Oct;9(4):221–7.

6.          Fatouros IG, Taxildaris K, Tokmakidis SP, Kalapotharakos V, Aggelousis N, Athanasopoulos S, et al. The effects of strength training, cardiovascular training and their combination on flexibility of inactive older adults. Int J Sports Med. 2002 Feb;23(2):112–9.

7.          Afonso J, Ramirez-Campillo R, Moscão J, Rocha T, Zacca R, Martins A, et al. Strength Training versus Stretching for Improving Range of Motion: A Systematic Review and Meta-Analysis. Healthcare (Basel). 2021 Apr 7;9(4):427.

8.          Gremion G. The effect of stretching on sports performance and the risk of sports injury: A review of the literature. Schweizerische Zeitschrift für «Sportmedizin und Sporttraumatologie». 2005;53(1):6–10.

9.          Konrad A, Močnik R, Nakamura M, Sudi K, Tilp M. The Impact of a Single Stretching Session on Running Performance and Running Economy: A Scoping Review. Front Physiol. 2021 Jan 20;11:630282.

10.        Kokkonen J, Nelson AG, Eldredge C, Winchester JB. Chronic static stretching improves exercise performance. Med Sci Sports Exerc. 2007 Oct;39(10):1825–31.

11.        Lohmann LH, Zech A, Plöschberger G, Oraže M, Jochum D, Warneke K. Acute and chronic effects of stretching on balance: a systematic review with multilevel meta-analysis. Front Med [Internet]. 2024 Sep 13 [cited 2025 Jul 29];11.

12.        Fradkin AJ, Gabbe BJ, Cameron PA. Does warming up prevent injury in sport?: The evidence from randomised controlled trials? Journal of Science and Medicine in Sport. 2006 Jun 1;9(3):214–20.

13.        Dupuy O, Douzi W, Theurot D, Bosquet L, Dugué B. An Evidence-Based Approach for Choosing Post-exercise Recovery Techniques to Reduce Markers of Muscle Damage, Soreness, Fatigue, and Inflammation: A Systematic Review With Meta-Analysis. Front Physiol. 2018;9:403.

14.        Herbert RD, Gabriel M. Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review. BMJ. 2002 Aug 31;325(7362):468.

15.        Johansson PH, Lindström L, Sundelin G, Lindström B. The effects of preexercise stretching on muscular soreness, tenderness and force loss following heavy eccentric exercise. Scand J Med Sci Sports. 1999 Aug;9(4):219–25.

16.        Witvrouw E, Mahieu N, Danneels L, McNair P. Stretching and injury prevention: an obscure relationship. Sports Med. 2004;34(7):443–9.

17.        White LC, Dolphin P, Dixon J. Hamstring length in patellofemoral pain syndrome. Physiotherapy. 2009 Mar;95(1):24–8.

18.        Lee JH, Jang KM, Kim E, Rhim HC, Kim HD. Effects of Static and Dynamic Stretching With Strengthening Exercises in Patients With Patellofemoral Pain Who Have Inflexible Hamstrings: A Randomized Controlled Trial. Sports Health. 2021;13(1):49–56.

19.        Jones BH, Cowan DN, Tomlinson JP, Robinson JR, Polly DW, Frykman PN. Epidemiology of injuries associated with physical training among young men in the army. Med Sci Sports Exerc. 1993 Feb;25(2):197–203.

20.        Katzmarzyk PT, Craig CL. Musculoskeletal fitness and risk of mortality: Medicine & Science in Sports & Exercise. 2002 May;34(5):740–4.

21.        Prospective Studies Collaboration, Whitlock G, Lewington S, Sherliker P, Clarke R, Emberson J, et al. Body-mass index and cause-specific mortality in 900 000 adults: collaborative analyses of 57 prospective studies. Lancet. 2009 Mar 28;373(9669):1083–96.

22.        Kodama S, Saito K, Tanaka S, Maki M, Yachi Y, Asumi M, et al. Cardiorespiratory fitness as a quantitative predictor of all-cause mortality and cardiovascular events in healthy men and women: a meta-analysis. JAMA. 2009 May 20;301(19):2024–35.

23.        Cooper R, Kuh D, Hardy R, Mortality Review Group, FALCon and HALCyon Study Teams. Objectively measured physical capability levels and mortality: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2010 Sep 9;341:c4467.

24.        Xie K, Han X, Hu X. Balance ability and all-cause death in middle-aged and older adults: A prospective cohort study. Front Public Health. 2023 Jan 9;10:1039522.

25.        Nuzzo JL. The Case for Retiring Flexibility as a Major Component of Physical Fitness. Sports Med. 2020 May;50(5):853–70.

26.        Bundesamt für Sport BASPO. Bewegungsempfehlungen Schweiz - Grundlagen. Magglingen: BASPO 2022.;

27.        Gando Y, Murakami H, Yamamoto K, Kawakami R, Ohno H, Sawada SS, et al. Greater Progression of Age-Related Aortic Stiffening in Adults with Poor Trunk Flexibility: A 5-Year Longitudinal Study. Front Physiol [Internet]. 2017 Jun 30 [cited 2025 Jul 29];8.

28.        Kruse NT, Scheuermann BW. Cardiovascular Responses to Skeletal Muscle Stretching: ‘Stretching’ the Truth or a New Exercise Paradigm for Cardiovascular Medicine? Sports Med. 2017 Dec;47(12):2507–20.

29.        Boukabache A, Preece SJ, Brookes N. Prolonged sitting and physical inactivity are associated with limited hip extension: A cross-sectional study. Musculoskeletal Science and Practice. 2021 Feb 1;51:102282.

30.        Carlson CR, Collins FL, Nitz AJ, Sturgis ET, Rogers JL. Muscle stretching as an alternative relaxation training procedure. J Behav Ther Exp Psychiatry. 1990 Mar;21(1):29–38.

31.        Aschwanden C. Good to go: what the athlete in all of us can learn from the strange science of recovery. WW Norton&Company. 2009.


Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine medizinische Beratung. Umsetzung der Inhalte auf eigene Verantwortung.

 
 

Hat dir dieser Artikel geholfen?

Mit deinem Beitrag hilfst du mit, diese Seite unabhängig und werbefrei zu halten. Vielen Dank für deine Wertschätzung!

In Bewegung bleiben

Bleib informiert und inspiriert: Erhalte jeden zweiten Montag fundiertes Wissen und praktische Tipps zu Bewegung und Gesundheit – direkt in dein Postfach.

Newsletter erfolgreich abonniert

Deine E-Mail-Adresse wird vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben.

bottom of page