Die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse sind falsch. Eine kritische Analyse der Grenzen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung.
Diese provokante Aussage ist mehr als nur eine Meinung – sie ist der Titel einer wissenschaftlichen Arbeit von John Ioannidis, Professor an der Stanford School of Medicine (1). Und ja, diese Studie könnte deshalb auch falsch sein. Die Arbeit zeigt aber die Probleme gut auf, die in der Wissenschaft vermehrt auftreten. Früher dachte ich, dass Studien die Quelle der Wahrheit sind. Während meines Studiums und meiner Zeit als Forscher wurde mir die Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnisse immer bewusster. In diesem Artikel will ich die Probleme der Wissenschaft und ein realistischeres Bild von Studien aufzeigen. Leider dienen nicht alle Studien zum Wohle der Patientinnen und Patienten. Ich glaube aber weiterhin, dass gute Forschung die beste Methode ist, um Mythen von Fakten zu trennen und uns hilft, gesundheitliche Entscheidungen zu treffen. Am Ende des Artikels werde ich einige Kriterien vorstellen, die helfen können, gute Forschung zu erkennen. Doch zuerst: Welche Probleme stehen im Zentrum dieser Kritik?
Finanzierung von Studien
In den USA sponsert die biomedizinische und pharmazeutische Industrie rund zwei Drittel der biomedizinischen Forschung (2). In der Schweiz und Europa dürfte das kaum anders sein. Aber hat das einen Einfluss auf die Ergebnisse? Fragt man Ärztinnen, Ärzte oder Forschende, sind die meisten überzeugt, dass die Finanzierung ihr Verhalten nicht beeinflusst. Korruption? Das betrifft nur die anderen, meinen viele. Doch eine Untersuchung zu dieser Frage kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Autorinnen und Autoren haben die Verschreibung von zwei Medikamenten vor und nach einem von Pharmafirmen bezahlten mehrtägigen Symposium analysiert und festgestellt, dass die Verschreibungen beider Medikamente danach stark zunahmen, obwohl die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte angaben, dass solche Einladungen ihr Verschreibungsverhalten nicht beeinflussen würden (3).
In der Forschung ist es nicht anders. Im Bereich der Biomedizin kommen Studien, die von der Industrie gesponsert sind, erheblich häufiger zu einem industriefreundlichen Fazit als unabhängig finanzierte Studien (etwa durch den Staat, Universitäten oder Stiftungen) (4). In der Ernährungsforschung haben wir genau dasselbe Problem, wie eine Studie zu Erfrischungsgetränken, Säften und Milch aufzeigt (5). Besonders eindrücklich zeigt dies eine Analyse von Übersichtsarbeiten, die den Zusammenhang zwischen Süssgetränken und Gewichtszunahme untersucht haben (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1. Einfluss der Finanzierungsquelle auf die Frage, ob Zucker in Zusammenhang mit einer Gewichtszunahme steht oder nicht.
Die Analyse zeigt deutlich, dass die allermeisten Studien, die von der Zuckerindustrie gesponsert sind (meistens Coca-Cola) zum Schluss kommen, dass Süssgetränke nicht für eine Gewichtszunahme verantwortlich sind. Genau zum umgekehrten Schluss kommen unabhängig finanzierte Studien: Süssgetränke fördern Gewichtszunahme (6). Dies zeigt, wie stark die Finanzierungsquelle die Ergebnisse beeinflussen kann.
Kein Wunder also, dass viele von uns unsicher sind, was sie essen und trinken sollten. Die Industrie hat ihr Ziel erreicht: Durch die Finanzierung von Studien, die das Gegenteil behaupten, schafft sie Verwirrung und verzögert ein notwendiges Umdenken. Genau diese Strategie verfolgte auch die Tabakindustrie, die uns jahrelang glauben machen wollte, Rauchen sei nicht schädlich (7).
Wie agiert die Industrie? Einerseits durch die aktive Beeinflussung von Studien. Eine Befragung von über 3.000 Forschenden aus den USA ergab, dass jede sechste Person zugab, das Design, die Methodik oder die Ergebnisse ihrer Studien aufgrund von Druck durch externe Geldgeber geändert zu haben (8). Andererseits durch die Nichtveröffentlichung von Resultaten, wenn diese nicht ihrer Hypothese entsprechen (9).
Leider beschränkt sich ihr Einfluss nicht nur auf Ärztinnen, Ärzte und Forschende. Die Industrie sponsert häufig auch Personen, die therapeutische Richtlinien erstellen – Richtlinien, denen die Ärzteschaft in der Praxis folgen muss. Wohin das führen kann, zeigt ein bekanntes Beispiel: die Opioidkrise in den USA, zu der finanzielle Interessenkonflikte und industriefreundliche Richtlinien vermutlich beigetragen haben (10).
Priorität Karriere
Eine unabhängig finanzierte Studie ist aber nicht automatisch glaubwürdig. In der Forschung ist das Mantra publish or perish (veröffentlichen oder untergehen) zur harten Realität geworden. Die Anzahl der veröffentlichten Studien gilt als zentrales Kriterium zur Bewertung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das setzt jedoch falsche Anreize: Quantität zählt mehr als Qualität (11).
Im Bereich der Bewegungs- und Ernährungswissenschaften zeigt sich das Problem an der oft geringen Teilnehmerzahl. Viele Studien testen weniger als 20 Personen (12), was die Aussagekraft stark einschränkt – dennoch werden daraus häufig weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. Noch problematischer ist, dass kleine Studien das Risiko für einen Typ-1-Fehler erhöhen – also ein positives Ergebnis liefern, obwohl in Wirklichkeit kein Effekt existiert. Zudem überschätzen sie oft das tatsächliche Ausmass einer Intervention, wenn ein Effekt festgestellt wird (12).
Stimmt es also, dass viele veröffentlichte Forschungsergebnisse falsch sind? Diese Frage lässt sich durch Replikationsstudien beantworten – Arbeiten, die versuchen, die Ergebnisse einer Studie zu wiederholen. In einer grossen Replikationsstudie versuchten Forschende, die Ergebnisse von 100 psychologischen Studien zu reproduzieren. Das Ergebnis? Nur ein Drittel der Studien konnte repliziert werden! Zudem war der festgestellte Effekt oft viel kleiner als ursprünglich berichtet (13). Ein weiteres Beispiel: Ein früherer Bericht zeigte, dass nur 6 von 53 veröffentlichten Ergebnissen aus der Krebsbiologie bestätigt werden konnten (14). Die kurze Antwort lautet also: Ja, viele veröffentlichte Forschungsergebnisse sind tatsächlich falsch. Neben der Finanzierungsquelle und der falschen Prioritätensetzung gibt es noch einen dritten entscheidenden Faktor, der zu diesem Problem beiträgt: die Statistik.
Statistische Signifikanz
In wissenschaftlichen Studien werden statistische Methoden verwendet, um zu prüfen, ob ein Unterschied zufällig oder tatsächlich durch eine Intervention entstanden ist. Ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Effekt rein zufällig entstanden ist, kleiner als 5 % (p < 0.05), spricht man von statistischer Signifikanz. Das wird oft so interpretiert, dass der Effekt durch die untersuchte Ursache entstanden ist – etwa durch ein Medikament oder Bewegung. Doch diese Interpretation birgt mehrere Probleme.
Erstens: Sie gibt nur Wahrscheinlichkeiten an – ein positiver Befund bedeutet nicht automatisch, dass er stimmt. Zweitens: Signifikanz sagt nichts über die Grösse eines Effekts aus. Ein Gewichtsverlust von 1 kg nach einem Jahr Sport mag statistisch signifikant sein, aber praktisch irrelevant. Drittens: Der p-Wert fördert Schwarz-Weiss-Denken. Ein p-Wert von 0.04 gilt oft als Beweis für einen Effekt, während 0.06 fast immer als „kein Effekt“ interpretiert wird – obwohl die Werte fast identisch sind. Und viertens: Studien mit positiven Ergebnissen (p < 0.05) werden viel häufiger publiziert als solche mit negativen Ergebnissen (p > 0.05) (15). Das erzeugt Druck, die Statistik zu beeinflussen, um p-Werte unter 0.05 zu erhalten. Oft geschieht das durch Anwendung ungeeigneter statistischer Methoden (16). Dieses Phänomen ist als p-Hacking bekannt und ist weitverbreitet (17).
Ist Wissenschaft noch glaubwürdig?
Es gibt viele Gründe, der Wissenschaft zu misstrauen. Dennoch bin ich überzeugt, dass wissenschaftliche Studien notwendig sind, um Mythen von Fakten zu trennen. Sie sind die beste Methode, um Hypothesen zu prüfen oder zu widerlegen. Wissenschaft ist – genau wie die Demokratie – nicht perfekt, aber sie bleibt das beste System, das wir haben. Anstatt Wissenschaft in Glaubwürdig oder Unglaubwürdig einzuteilen, sollten wir sie realistisch betrachten. Ja, Wissenschaft hat ihre Probleme und Grenzen. Wenn wir wissenschaftliche Erkenntnisse als unfehlbar darstellen, riskieren wir ihre Glaubwürdigkeit.
Ein weiteres Problem: Wissenschaft neigt dazu, sich selbst zu überschätzen. Oft stellen Forschende (mich eingeschlossen) den Glauben an ihre Methoden über die Erfahrung der Menschen. Wenn eine Bewegungs- oder Ernährungsintervention nicht den gewünschten Effekt hat, lautet die Erklärung oft: Die Teilnehmenden haben sich nicht an die Vorgaben gehalten. Dabei ignorieren wir, dass wir selbst oft Daten zu unseren Gunsten uminterpretieren – bewusst oder unbewusst (18). Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Was ist also die Lösung?
Lösungsstrategien
Der vielleicht wichtigste Punkt zuerst: Wissenschaft muss offen für Selbstkorrektur sein, um glaubwürdig zu bleiben. Und das funktioniert bereits gut. Ich musste keinen investigativen Journalismus betreiben, um die genannten Probleme aufzuzeigen – sie sind längst bekannt. Alle diese Herausforderungen wurden wissenschaftlich untersucht, publiziert und sind für jede*n zugänglich. Tatsächlich wurden viele der erwähnten Studien sogar in Open-Access-Journals veröffentlicht. Trotzdem sind gewisse Änderungen nötig. Die wichtigsten Massnahmen, von denen einige bereits umgesetzt wurden, sind folgende (1):
Transparenz bei der Finanzierung – Die Finanzierungsquelle muss in Studien klar angegeben werden.
Grössere, qualitativ hochwertige Studien – Weniger kleine Einzelstudien.
Vorregistrierung von Studien – Forschende sollen Hypothesen und statistische Methoden im Voraus veröffentlichen, um Manipulationen wie p-Hacking zu vermeiden.
Mehr Replikationsstudien – Studien müssen wiederholt werden, um die Ergebnisse zu überprüfen.
Interessenkonflikte reduzieren – Forschende sollten idealerweise nur von Universitäten finanziert werden, nicht von der Industrie.
Strengere Publikationskriterien – Die Anforderungen für die Veröffentlichung von Studien sollten erhöht werden.
Gute Strategien, um langfristig die Wissenschaft zu stärken. Doch wie erkennt man jetzt schon, ob eine Studie glaubwürdig ist? Meine Empfehlungen für Studien im Bereich der Bewegungs- und Ernährungsforschung:
Eine Studie immer im Kontext des bestehenden Wissens betrachten. Eine einzelne Studie beweist selten etwas – besonders, wenn sie nur wenige Teilnehmende hatte.
Originalstudie nachlesen, zumindest die Zusammenfassung (Abstract). Studien werden oft von Journalistinnen und Journalisten bewusst oder unbewusst vereinfacht oder verfälscht, um sie attraktiver zu machen.
Die Finanzierungsquelle prüfen. Diese findet sich oft unter „Conflicts of Interest“ oder „Funding“. Studien, die von der Industrie finanziert wurden, sollten besonders kritisch hinterfragt werden.
Wer profitiert von der Studie? Wenn die Ergebnisse sich eher nach Werbung anhören, lohnt es sich, genauer hinzuschauen.
Die Methodik prüfen. Handelt es sich um Laborstudien, Tierversuche oder klinische Studien mit Menschen? Gibt es eine Kontrollgruppe? Je besser das Studiendesign, desto verlässlicher die Ergebnisse.
Die Effektgrösse beachten. Ein statistisch signifikanter Unterschied (p < 0.05) sagt noch nichts über die Grösse des Effekts aus.
Gesunden Menschenverstand nutzen. Ergeben die Befunde einen nachvollziehbaren Sinn? Studien, die ungewöhnliche oder sensationelle Ergebnisse liefern, sollten besonders kritisch betrachtet werden.
Mit diesen Strategien können wir Studien besser einschätzen. Ja, das erfordert Zeit und Recherche – und nicht jede*r kann oder will sich diese nehmen. Genau hier setzt meine Website an: Forschung kritisch betrachten, in den Kontext des bestehenden Wissens einordnen und daraus valide Schlussfolgerungen sowie praktische Tipps für ein aktiveres, gesünderes Leben ableiten. Trotzdem bin auch ich nicht vor bewusster oder unbewusster Manipulation gefeit. Letztlich will ich glauben, dass Bewegung guttut. Falls du andere Erfahrungen gemacht hast oder meine Schlussfolgerungen hinterfragst, teile es mir ungeniert mit! Ich versuche, offen für neue Interpretationen zu sein.
Fazit
Wissenschaft hat ihre Grenzen – diese gilt es anzuerkennen und, wo möglich, zu verbessern. Sie basiert oft auf Durchschnittswerten und passt nicht immer zu individuellen Bedürfnissen. Dennoch bleibt sie die beste Methode, um Mythen von Fakten zu trennen und fundierte Entscheidungen zu treffen. In Kombination mit gesundem Menschenverstand und individueller Anpassung bietet sie einen wirkungsvollen Ansatz für ein gesundes Leben.
Referenzen