Bewegung auf Rezept – warum wir eine wirksame Therapie kaum nutzen
- Jan Stutz, Dr. sc. ETH
- 30. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 31. März
Eine effektive und kostengünstige Behandlungsmöglichkeit wird häufig übersehen: Bewegung. Dieser Beitrag zeigt, wo wir stehen – und was wir schon heute tun können.
Stell dir vor: Deine Ärztin oder dein Arzt verschreibt dir kein Medikament, sondern regelmässige Spaziergänge – klingt ungewöhnlich? Dabei könnte genau das in vielen Fällen der sinnvollere Weg sein. Doch unser Gesundheitssystem setzt andere Prioritäten – und das hat seinen Preis.
In der Schweiz haben sich die Krankenkassenprämien in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt – eine Stabilisierung der Kosten ist derzeit nicht absehbar (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1. Monatliche mittlere Krankenkassenprämien inklusive Wahlfranchise und Modelle. Quelle: Bundesamt für Gesundheit.
Rund 80 % der Gesundheitskosten entfallen auf chronische, nichtübertragbare Krankheiten – darunter etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes oder psychische Erkrankungen (1). Gerade in diesen Bereichen ist seit Jahrzehnten belegt: Bewegung wirkt präventiv und therapeutisch (2–4).
Auch wenn ich kein Experte in Gesundheitspolitik bin, habe ich den Eindruck, dass ein Umdenken notwendig ist. Investieren wir zu viele Ressourcen in die Symptombekämpfung, anstatt präventiv zu handeln und die Ursachen gezielt anzugehen? Es wird geschätzt, dass rund 80 % aller chronischen, nichtübertragbaren Krankheiten vermeidbar wären (5). Sie entstehen durch beeinflussbare Risikofaktoren wie Tabakkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, schädlichen Alkoholkonsum und Luftverschmutzung (5).
Gesellschaft vs. Individuum
Dass Bewegung wichtig für unsere Gesundheit ist, ist allgemein bekannt. Die Verantwortung jedoch vollständig auf das Verhalten einzelner Personen zu delegieren, greift meiner Meinung nach zu kurz. Denn wir leben in einem System, das einen gesunden Lebensstil oft nicht begünstigt. Werbung, verarbeitete Lebensmittel, Stress und gesellschaftlicher Druck beeinflussen unsere Entscheidungen – und damit unsere Gesundheit. Könnte es sein, dass die alleinige Betonung individueller Verantwortung letztlich dazu beiträgt, den Status quo zu erhalten – und die Verantwortung von Politik und Gesellschaft bewusst in den Hintergrund rückt?
Auch wir Wissenschaftler*innen tragen meines Erachtens eine gewisse Mitschuld. Jede Woche erscheint eine neue Studie, die behauptet, diese Trainingsmethode, jene Ernährung oder eine bestimmte Technologie sei die Lösung für unsere gesundheitlichen Probleme. Zurück bleibt jedoch oft Verwirrung – viele Menschen wissen nicht mehr, was sie essen oder wie viel sie sich bewegen sollen (6,7). Hinzu kommt, dass viele Studienergebnisse schlichtweg nicht belastbar oder sogar falsch sind (siehe Artikel hier).
Bewegung auf Rezept – die Situation in der Schweiz

Im Zusammenhang mit gesundheitspolitischer Verantwortung möchte ich den Schlussbericht einer Untersuchung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) teilen (8).
Bewegungsrezepte – also ärztlich verordnete Bewegungstherapie – sind in der Schweiz bislang kaum verbreitet, obwohl längst bekannt ist, dass Bewegung eine therapeutische Wirkung hat (4) – und bei vielen Krankheiten die Sterblichkeit ähnlich stark senken kann wie medikamentöse Therapien (9).
Zwar wird Bewegung in der Rehabilitation (z. B. bei muskuloskelettalen, Herz-Kreislauf- sowie Atemwegserkrankungen) eingesetzt und durch die Grundversicherung abgedeckt (etwa im Rahmen der Physiotherapie). Doch im ambulanten Bereich geschieht das kaum – obwohl gerade hier der grösste präventive und kosteneffiziente Nutzen entstehen könnte.
Es fehlt an klaren Strukturen, Zuständigkeiten und einer Finanzierung durch die Grundversicherung. In der medizinischen Ausbildung wird Bewegung nur am Rande thematisiert. Viele Ärzt*innen fühlen sich nicht zuständig oder haben im Praxisalltag schlicht keine Zeit dafür. Hinzu kommt: Die Rollenverteilung zwischen Fachpersonen ist oft unklar, und viele Bewegungsangebote stehen nur Menschen mit Zusatzversicherung offen – was bestehende soziale Ungleichheiten weiter verschärft.
Erfahrungen aus Ländern wie Skandinavien, Australien, Grossbritannien, Deutschland oder Frankreich zeigen: Es geht nicht nur um wissenschaftliche Evidenz. Entscheidend sind auch politischer Wille, klare Zuständigkeiten und finanzielle Anreize. In jenen Ländern, in denen Bewegung fest im Gesundheitssystem verankert ist, profitieren sowohl Patient*innen als auch die Krankenkassen. Frühzeitig eingesetzte Bewegungstherapie kann teure Folgeerkrankungen vermeiden.
Bis Bewegung aber tatsächlich standardmässig verschrieben wird und die Kosten von der Grundversicherung übernommen werden, dürfte jedoch noch einige Zeit vergehen.
Was wir bereits jetzt tun können
Doch wir können bereits jetzt aktiv werden – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne. Ich möchte dazu beitragen, Wissen über Bewegung als Prävention und Therapie allgemein zugänglich zu machen. Zusätzlich biete ich individuelle Bewegungsberatung an – inklusive personalisierter Empfehlungen in Form von Bewegungsrezepten (siehe hier). Dabei geht es um alltagsnahe, medizinisch fundierte Empfehlungen, die auf die individuellen Bedürfnisse, Beschwerden oder Ziele abgestimmt sind – zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen, Bewegungsmangel oder zur Prävention. Leider sind meine Angebote derzeit nicht kassenfinanziert – umso mehr wünsche ich mir, dass sich das in Zukunft ändert. Denn Bewegung sollte allen offenstehen, unabhängig vom Einkommen.
Wenn du Bewegung präventiv oder therapeutisch einsetzen möchtest, sprich mit deiner Ärztin oder deinem Arzt darüber, was in deinem Fall sinnvoll ist. Ich erlebe in Gesprächen mit Fachpersonen immer wieder, dass grosses Interesse besteht, Bewegung stärker in den medizinischen Alltag zu integrieren. Oder fang einfach heute an – mit einem 30-minütigen Spaziergang. Wie in diesem Artikel beschrieben, könnte mehr Bewegung im Alltag eines der besten Dinge sein, die wir für unsere Gesundheit tun können.
Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam etwas in Bewegung setzen können. Und ich hoffe, dass wir Bewegung künftig nicht nur als Freizeit betrachten – sondern als Teil einer gesunden Gesellschaft.
Referenzen